Die Dichterin, der Großonkel und ich

Eigentlich hat alles mit diesem Zettel angefangen. Ich war in den Schulferien bei meiner Großmutter zu Besuch und habe ein bisschen in ihren Sachen gekramt, alte Bücher, alte Fotos usw angeguckt. Zu beinahe jedem Stück wusste meine Großmutter spannende Geschichten zu erzählen. Zu hören, wie es früher zuging, als meine Mutter noch klein war, war von jeher mein liebster Zeitvertreib. Ich saß also im Zimmer meiner Großmutter und flippte durch einen Stapel alter Karten und Briefe. Dabei stieß ich mit einem Mal auf eine Unterschrift mit einem bekannten Namen. Ein sehr bekannter Name, den ich allerdings nie in unserem familiären Umfeld vermutet hätte: Gertrud von Le Fort. Für alle die sie nicht kennen, kommt hier ein kurzer biografischer Einschub:
Gertrud Freiin von le Fort, geboren 1876 in Minden, aufgewachsen auf dem Gut ihres Vaters in Mecklenburg und gestorben 1971 in einer Etagenwohnung in Oberstdorf, war eine der bekanntesten Dichterinnen deutscher Zunge in der Mitte des 20. Jahrhunderts. Heute zu unrecht vergessen, galt sie mit ihrer hohen Sprache als Vertreterin der sog. "inneren Emigration" während der NS-Diktatur. Zu ihren bekanntesten Werken zählen der Gedichtezyklus "Hymnen an die Kirche" und die Romane "Das Schweißtuch der Veronika" und "Die Letzte am Schafott". Die letzten 30 Jahre ihres Lebens verbrachte Gertrud von le Fort in Oberstdorf. Das dortige Gymnasium ist ihr zu Ehren benannt, als einzige Schule in Deutschland. 
Als Schülerin dieses Gymnasiums war mir der Name der Dichterin vertraut, wenn auch nicht ihr Werk. Ich wusste nur, dass sie zu ihren Lebzeiten sogar für den Literaturnobelpreis vorgeschlagen wurde.
Wie aber kam nun ihre Unterschrift unter einen Brief im Besitz meiner Großmutter? Auch die Adressatin, ein gewisses Fräulein Sazawsky, war mir bis dahin unbekannt. In dem Briefchen wird der Tod eines jungen Mannes betrauert, der mit jenem Fräulein Sazawsky verlobt war. Auf Nachfrage berichtete meine Großmutter, dass Fräulein Sazawsky mit Vornamen Bertl hieß und und mit ihrem Bruder, also meinem Großonkel, Hermann zunächst befreundet, dann verlobt war. Eine andere Großtante erzählte, dass ihre Mutter sie einmal quer durch Norddeutschland schickte, um als "Anstandswauwau" bei einem Besuch von Bertl bei Hermann dabei zu sein. Und wieder eine Großtante erzählte davon, wie er ihr als Kind an den Zöpfe gezogen hatte. Auf Fotos aus jener Zeit sieht das so aus: man sieht zwar deutlich, dass er den Schalk im Nacken hatte, er scheint aber auch ein sehr liebevoller großer oder kleiner Bruder gewesen zu sein, je nachdem welche seiner Schwestern ich gefragt hab. Im Gegenzug zur damals allgegenwärtigen Hitlerjugend, waren die Geschwister geprägt von der katholischen Jugendbewegung. Ein gelebtes Glaubensleben immunisiert wohl gegen Ideologien jeder Art, wie das Verhalten dieser und anderer katholischer Familien während der NS-Zeit beweist. Nicht Wenige mussten mit Haft oder Tod für ihre aufrechte Gesinnung zahlen. Dass es auch einen "Fall Orgaß" gab, indem es um eine Anklage wegen "religiöser, staatsfeindlicher Äußerungen" ging, die Großonkel Hermann getätigt haben soll, machte mich erst recht neugierig auf diesen Mann und sein Schicksal.
Meine schriftlichen Annäherungen an die Person Hermann Orgaß und seine Beziehung zu Gertrud von le Fort findet ihr --> hier und -->hier

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