Religion vs Kultur: Warum Frauen wirklich benachteiligt werden

Eigentlich habe ich schon länger auf eine Einlassung wie den Artikel von Ninve Ermagan gewartet. In der Internetzeitschrift ruhrbarone.de stellt die Studentin die These auf, dass nicht nur der Islam ein massives Frauenproblem hat, sondern auch im Christentum emanzipatorischer Nachholbedarf besteht. Ermagan ist syrisch-orthodoxe Christin und ihre sehr persönlich gehaltenen Zeilen über eine Jugendzeit, die sich doch irgendwie anders anfühlte, als die ihrer deutschen Mitschüler und Freunde, berühren mich. Einerseits schreibt sie von einer großen Freiheit, in Deutschland als Mädchen ebenso rauchen und auf Partys gehen zu können wie die Jungen. Andererseits waren da wohl doch Erwartungen, Prägungen, die ihr eine innere Hemmschwelle eingebaut haben: beim Thema vorehelicher Sex war Schluss. Die Verantwortung für diese Prüderie, wie sie es nennt, sieht die syrisch-orthodoxe junge Frau, die in Hessen aufwuchs, bei ihrer Religion, der sie dabei eine Ungleichberechtigung von Mann und Frau vorwirft, wenn sie sagt, dass die Jungen ihrer Gemeinschaft vor allem in sexueller Hinsicht weniger gegängelt würden als die Mädchen.
Diesen Erfahrungen werde ich bestimmt nicht widersprechen. Das könnte ich auch gar nicht, weil ich weder die Konfession, noch die Kultur und vor allem die Autorin selbst nicht persönlich kenne. Doch persönliche Erfahrungen sind genau dies: persönlich und sollten deswegen auch für sich stehen dürfen.
Auf keinen Fall soll hier der Eindruck einer Bewertung entstehen. Nichts liegt mir ferner. Ich möchte im Folgenden lediglich versuchen, einige Aspekte zum Thema Gleichberechtigungsdefizite im Patriachat aus meiner Sicht zu ergänzen.

Bemühen wir uns zunächst einmal um die Klärung der Begrifflichkeiten. Josef Bordat beginnt seinen Faktencheck zur Kirchengeschichte (der als Buch und Radiopodcast erschienen ist) indem er zwischen dem Christentum und der Christenheit unterscheidet. Das Christentum ist die Religion, der Glaube, der in Jesus Christus seinen Ursprung hat. Die Christenheit, das sind die Menschen, die an diese Religion glauben, dieser Gemeinschaft angehören. Eine Religion beschäftigt sich mit der Beantwortung spiritueller, philosophischer und ethisch-moralischer Fragen. Mit wachsender Anzahl der gläubigen Menschen kommen dann die sozialen, kulturellen und organisatorischen Komponenten hinzu, die einer menschlichen Gemeinschaft innewohnen.
Damit kommen wir zum ersten Punkt meiner Ausführungen: Meiner Ansicht nach ist es wichtig, zwischen Religion und Kultur zu unterscheiden, wenn man bestimmte strittige Punkte klären möchte. Eine Religion ist ihrem Wesen nach immer transzendental und personal orientiert, d.h. sie spricht jeden Menschen individuell und in gleicher Weise an, nämlich in seinem Herzen und Gewissen. Unabhängig von Unterschieden in den Offenbarungen bzw. heiligen Schriften, zielen die großen Weltreligionen, zu denen ich nicht nur die Monotheismen sondern auch Hinduismus, Buddhismus und Konfuzianismus zähle, darauf ab, dass der Mensch lernt, seine inneren Triebe einzuhegen und im Einklang mit Natur und Transzendenz zu leben. Dies gilt für jeden Menschen, der die religiösen Regeln annimmt und befolgt. Die meisten Religionen schreiben dabei Männern und Frauen die gleiche Würde zu! Zwar wird durchaus von unterschiedlichen Rechten und Pflichten für Frauen und Männer gesprochen, doch sind damit zumeist unterschiedliche Aufgaben gemeint, jedoch wird kein Unterschied in Wertigkeit und Würde der Geschlechter gemacht. Die jahrhundertelange faktische Benachteiligung von Frauen kann also, ungeachtet der religiösen Verbrämungen, nicht in den Religionen begründet liegen.
Der Begriff Kultur andererseits umreißt "im weitesten Sinne alles, was der Mensch selbst gestaltend hervorbringt". Im Folgenden beziehe ich diesen Begriff auf die Entwicklungen im sozialen und gesellschaftlichen Bereich. Salopp gesprochen also jene Dynamiken, die auftreten, wenn mehr als drei Menschen längere Zeit an einem Ort zusammenleben. Denn erdgeschichtlich gesehen, hat jede Gesellschaft einmal klein angefangen. Das Patriarchat, das hier näher betrachtet wird, ist dabei eine sehr verbreitete kulturelle Form des Zusammenlebens. Begründungen für eine Bevorzugung von Jungen (Männern) und damit einhergehend einer Benachteiligung von Mädchen (Frauen) finden sich in allen patriarchalisch organisierten Gesellschaften und dies unabhängig von der Religion, die dort praktiziert wird. Patriarchate finden sich nicht nur in islamisch und/oder christlich geprägten Gesellschaften, sondern auch in Ländern mit hinduistischen, buddhistischen oder konfuzianistischen Glaubensgemeinschaften. Überall dort können Frauen und Mädchen von ähnlichen Erfahrungen berichten wie Ninve Ermagan in ihrem Artikel. Mädchen und Frauen müssen dabei gar nicht explizit abgewertet werden im Umgang. Es reicht schon, dass Jungen und Männer bevorzugt behandelt werden, sei es nur bei der Tischordnung oder der Frage, wer sich an einer Unterhaltung beteiligen darf. Solche Regeln im sozialen Umgang sind allerdings ebenso gesellschaftlich-kulturell bedingt, wie die Annahme, dass nur ein männlicher Stammhalter die Familie gültig fortführen könne. Gerade Letzteres ist ein derart populärer Irrtum des Patriarchats, dass ihm bis heute ungezählte Mädchen noch vor der Geburt oder im frühen Kindesalter zum Opfer fallen.

In China, einem zumindest offiziell religionsfreien Staat, hat dieses kulturelle Beharren auf einem männlichen Stammhalter zusammen mit der staatlich verordneten Ein-Kind-Politik zu einem demographisch deutlich messbaren Ungleichgewicht der Geschlechter geführt.
Aus dem mehrheitlich hinduistischen Indien hörte man jüngst die Meldung, dass innerhalb der vergangenen drei Monate in 132 Dörfern unter 216 geborenen Kindern kein einziges Mädchen das Licht der Welt erblickte. Damit erhärten sich lang gehegte Vermutungen, dass in Indien und anderen stark patriarchalischen Gesellschaften Ultraschalluntersuchungen zur vorgeburtlichen Geschlechterselektion und entsprechender Abtreibungen genutzt werden.
Ein weiteres Beispiel aus einem weder christlich noch muslimisch geprägten Land sind die millionenfachen Auslandsadoptionen aus Südkorea, die aus einer humanitären Aktion nach dem Koreakrieg eine willkommene Maßnahme zur Beseitigung unerwünschter Kinder machte. Unerwünscht waren im konfuzianistisch geprägten Südkorea vor allem unehelich empfangene bzw. geborene Kinder und vor allem Mädchen. Erstere, weil Unehelichkeit bedeutete, dass eine Frau unverheiratet sexuell aktiv geworden war, was auch in Südkorea Schande für die Familie bedeutete und Letztere, weil nur ein ehelich geborener, ältester Sohn die Familien gültig weiterführen kann.
An diesen Beispielen für drei nicht monotheistische und dennoch patriarchale Gesellschaften sieht man, dass patriarchale Vorstellungen im Kern nicht religiös begründet sind. Dennoch kam und kommt es immer wieder vor, dass die Religion als Zusatzargument missbraucht wird, um die Verteidigung der Familienehre zur übernatürlichen Pflicht zu erklären. Seltsamerweise werden nur weibliche Familienmitglieder in diese Pflicht genommen und noch seltsamer ist, dass es allein die sexuellen Aktivitäten der Frauen und Mädchen sind, die diese Ehre zunichtemachen, nicht die der Jungen und Männer. Der Überlegenheitsanspruch, der hier zum Tragen kommt und sich wohl vor allem auf die physische Kraft stützt, muss dann durch allerlei "Hilfsargumente" gestützt werden. Umgedeutete Zitate heiliger Schriften und andere religiöse Weisungen werden hierfür gerne instrumentalisiert, weil dadurch die Verantwortung für die angebliche Inferiorität der Frau auf eine andere, unsichtbare, höhere Autorität verwiesen wird. Die Verantwortung für die Ungleichberechtigung von Frauen und Mädchen wird minimiert, denn man handelt ja im Auftrag und zum Gefallen Gottes.

Bei genauem Hinsehen sind viel mehr unserer Werte und Traditionen einer kulturellen Entwicklung geschuldet als wir annehmen. Die Gesellschaftsform des Patriarchats, also die Höherwertung des Männlichen über das Weibliche und damit einhergehend die Akkumulierung von Macht bei den Männern, ist an sich ein anthropologisches, soziokulturelles Phänomen. Es entstand in einer Zeit, in der Frauen und Mädchen ob ihrer geringeren Körperkräfte den Gefahren der Natur und rivalisierender Stämme stärker ausgesetzt waren. Die Idee des Mannes als Beschützer der Frau, welche die Kinder gebar, sicherte das Überleben des ganzen Clans. Irgendwann jedoch brach in dieses aufgabenteilige Idyll die Schlange der Bewertung/ Abwertung herein. Denn leider ist es so, dass, wenn eine Sache aufgewertet wird, eine andere Sache automatisch abgewertet wird. Selbst wenn man dies nicht beabsichtigt und es nur implizit geschieht. Ebenso liegt es in der Natur des Menschen, dass er "stärker" fast immer mit "besser" bewertet. Wenn wir dies verstanden haben und um nun nicht in einen egalitären Rausch und in die nächste Ungerechtigkeit zu verfallen, sollten wir alle Missstände der Gleichberechtigung auf ihren tatsächlichen Ursprung hin prüfen.

Bei genauem Hinsehen entpuppt sich manches, was landläufig als Benachteiligung der Frau angesehen wird, einfach als unterschiedliche Aufgabenverteilung aufgrund unterschiedlicher Fähigkeiten oder Beauftragungen. Dagegen rückt manch anderes, was man gar nicht vermutet hätte, als tatsächliche Abwertung der Frau (als Frau) in den Fokus. Es gibt noch genug Bereiche auf der Welt, wo Mädchen und Frauen aufgrund ihres Geschlechtes und kulturell bedingter Irrtümer fundamentale Rechte verweigert werden, beginnend mit dem Recht auf Leben, körperliche Unversehrtheit, Bildung und Meinungsfreiheit.

Unterstützen wir diese Frauen und Mädchen und achten wir genauer auf die Gründe hinter den Dingen!

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