Sewing Adventure #4: Von Nadel, Faden und Gemeinschaft
Eigentlich hatte Nähen schon immer viel mit Gemeinschaft zu tun. Seit ich selbst regelmäßig Nadel und Faden zur Hand nehme, weiß ich, wie zeitaufwendig das Fertigen auch scheinbar ganz einfacher Kleidungsstücke sein kann und vor meinem inneren Augen sehe ich nicht nur die Schneiderinnen und Putzmacherinnen mit ihren Gehilfinnen zusammensitzen, sondern auch Mütter, Großmütter, Tanten, die ihre Fähigkeiten an die nächsten Generationen weitergeben. Wie gerne würde ich in Urgroßvater Pauls oder Großtante Sophies Schneiderstube mit sitzen, ihre Geschichten hören und von ihnen lernen. Gerade Urgroßvater Paul , geboren 1881, wäre der Experte in "authentic victorian dressmaking techniques"!
Im 21. Jahrhundert haben wir dafür das Internet (und Frauenwahlrecht, es ist ja nicht alles schlecht). Auf diese Weise können wir virtuell Gleichgesinnte treffen, unsere Erfahrungen teilen, Inspirationen bekommen und viel voneinander lernen. An dieser Stelle möchte ich nachdrücklich die wirklich inspirierende Cathy Hay vorstellen, die mit ihrer Website "Foundations Revealed" nicht nur eine ständig wachsende Datenbank zu historischer Mode und Nähtechniken geschaffen hat, sondern auch eine Möglichkeit für begeisterte Amateur-Schneider auf der ganzen Welt, den eigenen modischen Stil einfach selber zu machen. Dabei die Geschichte zum Vorbild zu nehmen, macht in mehr als einer Sicht Sinn. Bei genauerem Hinsehen merkt man erst, wieviel Halbwissen und Vorurteile über die Kleidung unserer Vorväter sich eingeschlichen haben, der Respekt vor ihren Fähigkeiten wächst und zu allem anderen schlägt man damit auch noch der Fast Fashion ein Schnippchen. Meine geneigten Leser werden es mir verzeihen , wenn ich um die Wiederentdeckung einiger uralter Industriezweige bitte: die Wolltuchherstellung (denkt an all den Tweed!), den Flachsanbau und die Leinenherstellung. In den letzten Jahren sieht man tatsächlich wieder mehr Schafe in Deutschland, gerade auch für die Pflege von größeren Grünflächen. Schafe müssen regelmäßig geschoren werden, sonst werden sie krank. Die Wolle, die dabei anfällt, wird entweder als Dämmstoff zum Bauen verwendet oder weg geworfen. Ihr habt richtig gelesen. Wolle hiesiger Schafe, die man wunderbar spinnen und weben könnte, werden hier weg geworfen und dafür Wolle und Tuche aus Neuseeland importiert. Die Begründung ist oft, dass die Fähigkeiten hier in Mitteleuropa verloren gegangen sind und dass es sich nicht mehr lohnt. Dieselbe Begründung übrigens, aus der Leinen, früher ein günstiger Stoff für Unterwäsche und Hemden, heute so teuer geworden ist. Einfach, weil es kaum gutes, fein gewebtes Leinen gibt. Dabei wäre Leinen, ein Stoff, der aus den verarbeiteten Fasern der Flachspflanze gesponnen und gewoben wird, gerade heutzutage ideal. Natürlich, atmungsaktiv und sogar vegan. Doch das nur am Rande.
Ich wollte euch ja von Foundations Revealed erzählen. Anfang des Jahres habe ich an ihrem Wettbewerb teilgenommen, der unter dem Motto "Once upon a time" stand. Mein Beitrag hieß "Stine Rehbein in the woods" und ich habe mir die Heldin des fontaneischen Romans auf ihrem Rückweg von Graf Waldemar's Beerdigung vorgestellt.
Im besten olympischen Sinn habe ich diesen Wettbewerb vor allem als Anlass genommen, Kleidungsstücke für mich zu nähen, vom Maßnehmen (an mir selber; wie ich das geschafft habe, ist mir immer noch ein Rätsel), Zeichnen des Schnittmusters (nach einem originalen Schnittmusterbuch von 1895) bis zu dem tatsächlichen Tragen des fertigen Stücks. Heraus gekommen ist ein Ensemble aus Unterrock, Tagesrock (walking skirt) und Umhang (cape).
Inzwischen trage ich alle drei Stücke regelmäßig, zusammen oder auch separat und ich arbeite an meinem dritten Unterrock, denn, wie ich festgestellt habe, man kann nie genug Unterröcke haben.
Zudem wird die Liste anstehender Projekte, die alle mehr oder weniger historisch inspiriert sind, immer länger:
- einen zweiten walking skirt nach dem Schnitt von 1895; der ist schon fast fertig
- ein chemise/shift/Untergewand, wie man sie bis ins 18./19. Jahrhundert trug
- ein Chemisenkleid, "chemise à la reine", wie es 1782 von Marie-Antoinette bekannt gemacht wurde
- einen Rock nach Art des 18. Jahrhunderts
- ein Schnürleibchen ("stays") aus der Regency Zeit
- ein Kleid aus der Regency Zeit
- ein Spencer Jacket der Regency Zeit in dunkelgrünen Stoff mit schwarzen Bordüren, angelehnt an die Uniformen der britischen 95. Schützenbrigade
- und noch vieles mehr...
Im Sinne des gemeinschaftlichen Entdecken und Lernens seid ihr herzlich eingeladen, auch hier jede Frage zu stellen, die ihr zu euren eigenen Nähprojekten haben solltet. Maß nehmen, zuschneiden, Nähtechniken oder historische Stile...
Ich freue mich auf eure Kommentare (Fragen oder Anregungen) und werde ich mich bemühen, euch hilfreich antworten.
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