Das fremde Kind - Eine Erzählung über Versöhnung

Von allen Erzählungen Gertrud von Le Forts ist "Das fremde Kind" eine meiner liebsten. Die 1961 erstmals erschienene kleine Geschichte gehört zu ihrem Spätwerk. Ungewöhnlich ist, dass hierin zum ersten Mal nicht in die weitere Historie zurück gespiegelt wird, sondern die Handlung klar erkennbar in Deutschland und zwischen 1900 und 1945 spielt. Lediglich die Ortsnamen sind fiktiv oder vage angedeutet, ein Bezug zur Biographie der Autorin ist jedoch klar erkennbar. 
Thema ist das plötzliche Ende einer ganze Epoche. Der Übergang von der Monarchie, mit Adel, Grundbesitzern und Bildungsbürgertum zu einer Demokratie, die all das zu verachten schien und den Fokus bewusst auf die Arbeiter legte. Zudem wurde dieser Wechsel mit Ende des Ersten Weltkriegs herbeigeführt. Vielleicht waren diese beiden grundlegenden gesellschaftlich-politischen Brüche zu viel, zu rasch und auch zu schonungslos für manche Menschen. Wie in Margaret Mitchells berühmtem Roman "Vom Winde verweht" wird auch in "Das fremde Kind" wie unter einem Brennglas das Zusammenbrechen einer ganzen Gesellschaftsordnung sichtbar, sowie die Schwierigkeiten, mit denen die Menschen kämpfen, die sich an die verändernden Umstände anzupassen versuchen. Ein paar eilen der neuen Zeit forschen Schrittes entgegen, weil sie sich davon Vorteile versprechen. Andere bleiben zurück, resignieren oder verstricken sich in Schuld. Und wieder andere scheitern, weil sie einem inneren Gesetz gehorchen, das ebenfalls nicht in die neue Zeit zu passen scheint. Wofür Margaret Mitchell mehrere hundert Seiten gebraucht hat, das konzentriert Gertrud von Le Fort in einem ganz schmalen Bändchen.

Die Handlung in "Das fremde Kind" setzt um 1900 in Mecklenburg ein. Ein fiktives Städtchen namens Träumerei, das wie das Land umher einem Herzog untersteht, der in dem nahegelegenen Schloss residiert. Rund um Stadt und herzogliches Schloss sind verschiedene landadelige Familien angesiedelt, manche reich, andere verarmt, aber standesbewusst. In der strengen Gesellschaftsordnung, die noch ganz die des 19. Jahrhundert ist, nimmt sich die Protagonistin durch ihre sensible Hilfsbereitschaft, die weder nach die Tierwelt noch zu den unteren Klassen hin Schranken kennt, zumindest exzentrisch aus. Mit vollem Namen heißt sie Caritas Freiin von Glas und Glossow und stammt aus einer alten, wenngleich verarmten Landadelsfamilie. Schon ihr Vorname nimmt die große Hilfsbereitschaft vorweg, während der erste Teil ihres Familiennamens auf die Zartheit ihrer Erscheinung und ihre übergroße Sensibilität hinweist. Ihr gegenüber steht Jeskow, mit vollem Namen Freiherr von Nestriz und Groß-Ellersdorf, ein Vertreter der alten Ordnung. Ihm gelingt es erst spät, den Verlockungen und Fallstricken der neuen Zeit zu entkommen. 

Erzählt wird die Geschichte aus der Perspektive von Jeskows Cousine Charlotte von Nestriz. Auch sie entstammt der alten Ordnung, in der sie unauffällig vor sich hin lebt. Nach dem Zusammenbruch der alten und der neuen Zeit jedoch ist sie es, die sich um den Verwundeten und das fremde Kind kümmert. Charlotte ist die Überlebende, sie kann Rückschau halten und die Dinge verstehen.
Die Kinder von Nestriz und von Glas wachsen gemeinsam auf. Kurz vor Ausbruch des ersten Weltkrieges erscheint es auf einem Hofball, als ob sich zwischen Jeskow und Gläschen eine Romanze entspinnt, doch die Hofgesellschaft wartet vergeblich auf die Verkündigung einer Verlobung. Jeskow zieht in seiner blauen Dragoner­uniform in den Krieg und überlebt diesen als einziger Erbe seines Geschlechts. In seiner Enttäuschung über die Niederlage glaubt er die "Dolchstoßlegende" und wendet sich den neuen Machthabern zu. Im Zweiten Weltkrieg nimmt er in der schwarzen Uniform der Waffen-SS am Ostfeldzug teil und folgt Befehlen auch, als Polen und Juden ohne Prozess erschossen werden. Als aber ein kleines Judenmädchen während einer solchen frevelhaften Aktion im Warschauer Ghetto Jeskow flehentlich anblickt, will er nicht mehr gehorchen. Bald nach „dem Zusammenbruch seines Führer­glaubens“ wird er bei einem Angriff von den eigenen Leuten in den Rücken geschossen. Für Jeskow ist der Krieg vorbei. Er kehrt zurück nach Schloss Groß-Ellerdorf und sitzt von da an im Rollstuhl. Kurz darauf kommt auch Gläschen mit einem etwa vier Jahre alten jüdischen Mädchen, der kleinen Esther, aus Süddeutschland nach Mecklenburg zurück. Esther ist das titelgebende "fremde Kind". Sie wird von Gläschen als ihr Kind registriert somit vor der drohenden Deportation gerettet. Die beiden kommen bei Herrn Klitsch, einem „dicken Nazi“, unter.
Gläschen begegnet Jeskow im Groß-Ellersdorfer Schlosspark. Ihre Romanze flackert erneut auf, obwohl sie beide mittlerweile nicht mehr jung sind und Jeskow im Rollstuhl sitzt. Der Anblick der kleinen Esther erinnert Jeskow an die Zeit in Warschau und an seine Schuld und er fühlt sich bei ihr unbehaglich. Doch die Kleine fühlt sich zu Jeskow hingezogen. Als Klitsch Esther als Jüdin deportieren lassen will, verhindert das Jeskow mit seiner Restautorität als Partei­mitglied und ehemals kommandierender SS-Offizier. Gläschen, die eine Jüdin schützt, wird im Schlosspark  erschossen. Keiner der Ortsansässigen will die Mär vom Selbstmord glauben. Der einst so blasierte Jeskow nimmt Esther zu sich und findet Trost an deren Zuneigung. Zusammen mit Charlotte und Esther weicht er vor der russischen Armee nach Süddeutschland aus. Esthers Mutter hat den Krieg überlebt und geht mit der Tochter nach Tel-Aviv. Schloss Groß-Ellersdorf, 1945 zerstört, wird mit der Zeit für die beiden in Süddeutschland harrenden Norddeutschen ein schöner Traum.

Es ist beeindruckend, wie Gertrud von le Fort hier mit der jüngeren deutschen Geschichte, die ja auch ihre Geschichte ist, umgeht. Weder verklärt sie die alte Zeit, noch leugnet sie offenkundige Schwächen. Sanft setzt sie kleine Spitzen gegen die vergnügungssüchtige Hofgesellschaft, oder gegen jene, die nur auf das äußere Einhalten von Regeln, das "comme-il-faut" schauen. Auch die Verstrickung von Teilen dieser alten Gesellschaft mit den braunen Machthabern und ihre Schuld im zweiten Weltkrieg wird nicht geleugnet, im Gegenteil. Sie findet prominent Raum in der Person der männlichen Hauptfigur, Jeskow von Nestriz und Groß-Ellersdorf. Als teilweise Vorlage für diese Figur mag Rittmeister Stephan von Le Fort, der Bruder der Dichterin, gedient haben. Auch er diente im ersten Weltkrieg, konnte die Niederlage schwer verwinden und beteiligte sich deswegen 1920 am Kapp-Putsch. Nach der Niederschlagung des Putsches floh er nach Süddeutschland. Das Gut Boek, das er als Fideikommis geerbt hatte, wurde vom Staat eingezogen und Gertrud von Le Fort musste die Abwicklung organisieren. Ebenso wie ihren Protagonisten blieb auch ihr danach nur noch die Erinnerung an das Familiengut und das Leben in der alten Ordnung, das immerhin ihre Kindheit, Jugend und junge Erwachsenenzeit geprägt hatte. Daher ist der Hauch Wehmut oder Nostalgie verständlich, der durch die Rückblickpassagen der Erzählung weht. 

Wichtiger als das Genregemälde einer untergegangenen Epoche, das hier gezeichnet wird, ist der Umgang mit der Schuld und dem schuldig Gewordenen. Es ist das persönliche Angeschaut-werden, die unaufgeforderte Zuneigung, die es Jeskow ermöglicht, sich nach und nach seiner Schuld zu stellen. Jeskow möchte dem Kind zunächst ausweichen, meint, dass das Kind stellvertretend für sein Volk, an dem er auch so sehr schuldig geworden, ihn hassen müsste. Doch die kleine Esther schlägt das alles in den Wind. Sie bindet sich freiwillig an den Versehrten, sucht seine Nähe auch dann, wenn er am knurrigsten ist und hilft ihm so, nur durch ihr stillschweigendes Verstehen, dass er als Verzeihen deuten kann, innerlich zu heilen.


Titel: Das fremde Kind
Autorin: Gertrud von Le Fort
Verlag: Petra Kehl
Erscheinungsdatum: 1.10.2015
Einband: Broschiert
Seiten: 99
ISBN: 978-3930883745
Preis: 8,90 EUR

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