Sewing Adventures #3: Was Nähen mit Emanzipation zu tun hat

Da fängt man ahnungslos und guten Mutes ein neues Projekt an und findet sich unversehens in der Mitte neuer Erkenntnisse. 

Nachdem ich glücklich die erste Etappe meines "victorian walking skirt" (Schnitt zeichnen und Mock-up) hinter mich gebracht hatte, holte ich einmal tief Luft, bevor ich mich an Ausschneiden wagte. Ich habe mir einen braunen Baumwollstoff mit unauffälligem Karomuster ausgewählt und Anleitung in den Büchern "Authentic Victorian Dressmaking Techniques" und "Household sewing and home dressmaking" gesucht.
Das letztere Buch wurde ca. 1898 von einer gewissen Mrs. Bertha Banner in England geschrieben und wird in der Community der nähbegeisterten Kostümfans ("historical costumers", "historybounders") sehr gefeiert, weil man nicht nur ein historisches Quellendokument hat, sondern quasi direkt aus dem 19. Jahrhundert lernen kann.  Als ob man bei Mrs. Banner in der Klasse sitzt...

Auf dem Titelblatt findet sich eine höchst interessante Widmung. Mrs. Banner hatte offensichtlich ein Zertifikat in Hauswirtschaftslehre des Badischen Frauenvereins, Karlsruhe, erworben, das sie dazu berechtigte, am Technical College in Liverpool zu unterrichten.

Der Badische Frauenverein wird vielleicht keinem meiner geneigten Leser etwas sagen, da diese Vereinigung 1937 aufgelöst und selbst nach Kriegsende nicht mehr reaktiviert wurde. Glücklicherweise kenne ich – noch aus meinen Studientagen – eine Historikerin, die eine Zeitlang im Badischen Landesmuseum in Karlsruhe gearbeitet hat. Die liebe Maren hat vor kurzem ihr zweites Kind bekommen, doch zwischen Windeln, Spielzeug und ihrem Erstgeborenen hat sie sich dennoch dankenswerterweise die Zeit genommen, ihre Fachkenntnisse mit mir zu teilen. Das Gespräch mit Maren war für mich der Startpunkt, um meine eigene Recherche zu starten; etwas, was ich schon im Studium immer am liebsten mochte. Dabei habe ich interessante Erkenntnisse zutage gefördert, die das Klischeebild der unterdrückten Frau des 19. Jahrhundert zumindest ein bisschen erschüttern.

Begonnen hat der Badische Frauenverein 1859 als Wohltätigkeitsprojekt der damaligen Großherzogin Louise von Baden, einer Tochter von Prinz Wilhelm von Preußen, ab 1871 als Wilhelm I. deutscher Kaiser. So steht es wenigstens in jeder Enzyklopädie. Bedenkt man die Umstände und besonders die Tatsache, dass im 19. Jahrhundert der sog. Wohlfahrtsstaat in der heute bekannten Form noch nicht existierte, waren Wohltätigkeitsprojekte weniger ein „Spielzeug“ der Adeligen und reichen Bürgern, sondern vielmehr wirklich notwendige Antworten auf die Nöte der Zeit. Nach Spendensammlungen für die Armee entdeckten die Damen des Badischen Frauenvereins die Förderung weiblicher Bildung und weiblicher Erwerbsarbeit als eine ihrer Hauptaufgaben. Dazu wurde eine berufsbildende Schule für Mädchen gegründet, die nach der Stifterin des Vereins „Luisenanstalt“ genannt wurde. 

In einem Artikel der Wochenzeitschrift „Volksblatt“ aus Straßburg steht eine ausführliche Beschreibung dieser Schule und ihrer „Wirksamkeit“:
Die, 1875 gegründete Abtheilung, welche sich wiederum in 3 Zweige gliedert, stellt sich die Aufgabe, 
1. in der nach der hohen Stifterin also benannten Luisenanstalt junge Mädchen aus mittleren Ständen des In- und Auslandes und ohne Unterschied des Bekenntnisses in allen weiblichen Arbeiten derart auszubilden, daß sie nicht nur zu guten Hausfrauen erzogen, sondern auch für den gewerblichen Beruf herangebildet werden, damit sie einerseits dem Manne in seinem geschäftlichen Wirken hilfreich zur Seite stehen können und andererseits befähigt werden, auch selbstständig ihr Fortkommen im Leben zu finden. Neben einer streng sittlichen und religiösen Erziehung wird über das leibliche Wohl der Schülerinnen mit liebevoller Fürsorge gewacht. Der Unterricht teilt sich in praktische und theoretische Fächer. Zunächst werden alle in das Gebiet der Hauswirtschaft einschlagenden Arbeiten, wie Kochen, Putzen, Waschen, Bügeln etc. etc. gründlich erlernt. In sämtlichen weiblichen Handarbeiten, vom Stricken, Nähen, Häkeln bis zum Maschinennähen und Kleidermachen, wird vorzüglicher Unterricht erteilt. Außerdem erhalten die Luisenschülerinnen, deren Aufnahme jedoch erst nach zurückgelegtem 14. Lebensjahre erfolgen kann, Unterricht in allen Elementarfächern. Dem Zeichnen wird eine besondere Aufmerksamkeit zugewandt, hauptsächlich dem Freihandzeichnen, dem geometrischen und Musterzeichnen, welches bei einigem Geschick mit der Zeit die Fähigkeit gibt, Stickmuster, Namenszüge etc. frei zu entwerfen. Nicht weniger Wert wird auf die gründliche Erlernung des Rechnens sowie der einfachen und doppelten Buchführung verwandt. Auch verschiedene Fächer der Naturkunde mit besonderer Rücksicht auf die Haushaltung werden durchgenommen, der Unterricht in fremden Sprachen jedoch nur auf besonderen Wunsch erteilt. Die Vergütung, welche eine jede Schülerin als Beitrag zahlen muß, ist eine so geringe, gar nicht in Vergleich zu ziehende mit dem, was an körperlichem und geistigem Gewinn geboten wird, daß man Eltern, denen es am Herzen liegt, ihren Töchtern eine gute Erziehung angedeihen zu lassen, diese Anstalt nicht warm genug empfehlen kann. 
2. ist das Bestreben dahin gerichtet, Mädchen, welche mit guten Schulzeugnissen versehen sind und das achtzehnte Lebensjahr zurückgelegt haben, in einem fünfmonatlichen Unterrichtskurs zu Arbeitslehrerinnen heranzubilden; der Unterricht erstreckt sich auf folgende Fächer: Weibliche Handarbeiten, Stricken, Häkeln, Nähen in wöchentlich 30 Stunden. Zeichnen und Rechnen 4 Stunden. Deutsche Sprache 6 Stunden. Erziehung und Gesundheitslehre 2 Stunden. Die Vergütung für diesen Unterrichtskurs beträgt einschließlich Kost und Wohnung 150 Mark. Für Stadtschülerinnen wird ein Lehrgeld von 20 Mark entrichtet. Bei befriedigenden Leistungen wird den Teilnehmenden am Schlusse des Kurses von Seiten des großherzoglichen Oberschulrats ein Zeugnis der Reife ausgestellt, welches den Eintritt als Lehrerin in Elementar-Mädchenschulen ermöglicht.

Besonders interessant finde ich hier, dass die Luisenanstalt eine Ausbildung in hauswirtschaftlichen Fähigkeiten nicht nur für die Anwendung im Haushalt, sondern auch als berufliche Qualifikation sah und beides – Haushalt und Beruf – gleich bewertet. Jeder, der schon einmal seinen eigenen Haushalt geführt hat, egal ob Männlein oder Weiblein, wird mir zustimmen, dass es eben nicht nur „das bisschen Haushalt“ ist, sondern sich zu einer ganz eigenen Arbeit für die „maker of the home“ auswachsen kann. Unter Punkt 2 des Zitats wird jene Ausbildung beschrieben, welche Mrs. Bertha Banner von England nach Karlsruhe gelockt hat und uns ein Buch beschert hat, aus dem wir heute noch lernen können. 

Das Buch "Household sewing and home dressmaking" von Bertha Banner könnt ihr in der digitalisierten PDF-Fassung gratis auf archive.org herunterladen. 

Was ich persönlich für meinen "victorian walking skirt" und den dazu gehörigen Unterrock aus diesem und anderen Büchern der Zeitperiode gelernt habe, werde ich in euch demnächst berichten. 

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